Warum Bildungspolitik gerade in der Krise Beteiligung braucht

Seit Mittwoch werden in Berlin die Abiturprüfungen geschrieben. Bis zuletzt hatten zahlreiche Schüler:innen dagegen protestiert und Ausweichmöglichkeiten wie ein Durchschnittsabitur gefordert. Unterstützung für die Idee gab es nur seitens der Bildungsgewerkschaft GEW.

Seitens des Landes-Elternausschusses hieß es zuletzt, man sehe "keine Notwendigkeit", die Prüfungen abzusagen und verwies auf von der Bildungsverwaltung beschlossene Erleichterungen. Aber reicht das aus?

Stress, Stress und noch mehr Stress.

Äußerungen von Schüler:innen in Sozialen Medien zeichnen ein dramatisches Bild, das die Zurückhaltung des obersten Elterngremiums wenig nachzuvollziehen lässt: Sie berichten von steigenden Ängsten und mentalen Zusammenbrüchen - beklagen aber auch Unterrichtsausfälle, mangelhafte eigene Ausstattung sowie die ihrer Lehrkräfte und natürlich auch von Angst, sich selbst und andere mit dem Coronavirus anzustecken.

Aber auch Eltern sind nicht alle gelassen: Rabia Hanane, Mitarbeiterin bei den Stadtteilmüttern in Neukölln, schilderte gegenüber dem rbb, wie es gerade den Familien geht, die auch schon vor der Coronakrise mit den Folgen von sozialer Benachteiligung zu kämpfen hatten: Überforderung, Ratlosigkeit, Zukunftsängste. Wie ernst die Lage ist, sollten nach solchen Äußerungen auch all jene erkennen können, die bisher glauben wollten, im Homeschooling hätten alle die gleichen Voraussetzungen.

Studien über die steigenden psychischen Belastungen von Schüler:innen untermauern das Bild von der eskalierenden Krisensituation: Sie machen deutlich, dass es sich bei den Beschwerden keinesfalls um Einzelfälle - sondern um ein strukturelles, aber vernachlässigtes, Problem handelt. Ich erspare uns an der Stelle weitere Ausführungen darüber, wie die Coronakrise die Auswirkungen von Benachteiligung und mehrfacher Diskriminierung im Bildungsbereich verstärkt; wenn ihr oder eure Kinder das gerade erleben, wisst ihr selbst viel besser als ich, worum es geht und woher das kommt. Allen anderen sei nahegelegt in nahezu jeder seriösen Berliner Tageszeitung, Radiosender oder Youtube-Kanal nach Artikeln rund um Corona und Schule zu schauen.

Beteiligung - aber bitte so wenig wie möglich?

Die Bildungsverwaltung unter Leitung von Senatorin Sandra Scheeres (SPD) ist nun nicht gerade dafür bekannt, dass sie in ihren Versuchen, Problemlösungen zu finden, auf Beteiligung der Zivilgesellschaft setzt. Das mussten auch Vertreter:innen der Abijahrgänge von über 30 Berliner Schulen erfahren, die sich bereits im Januar in einem offenen Brief an die Senatorin wandten. Eine Einladung zum Gespräch gab es nicht; die anschließende Petition blieb gänzlich unbeantwortet.

Klar - einig ist sich die Berliner Schüler:innenschaft natürlich nicht. Die Meinungen darüber, wie mit den Abiturprüfungen bestmöglich verfahren werden sollte (Durchschnittsabitur, freiwillige Prüfungsteilnahme oder etwas ganz anderes?), sind so vielfältig wie Schüler:innen und ihre Lebensumstände und Lernbedingungen eben verschieden sind. Aber gerade diese Erkenntnis sollte Argument für eine gemeinsame Auseinandersetzung sein, bei der möglichst viele Perspektiven einbezogen werden.

Nun gut, vielleicht möchte die Senatorin nicht mit Akteuren sprechen, die nicht in Gremien gewählt worden sind. Aus diskriminierungskritischer Sicht wäre das allerdings fatal. Denn gerade die diskriminierungserfahrene Zivilgesellschaft ist selten in den Gremien des Landes Berlin vertreten - außerhalb der Gremien, die sie explizit vertreten sollen, wie beispielsweise der Behindertenbeirat oder der Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen.

Verantwortungsvoll handeln: Vielfältige Perspektiven einbeziehen!

Die Frage nach den Abiturprüfungen ist endgültig beantwortet. Heute begannen die Klausuren. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie wünscht den Abiturient:innen “viel Erfolg” auf Instagram. Sollten die Schüler:innen nicht überraschenderweise massenhaft streiken, werden die Prüfungen wohl weiter durchgeführt werden. Einige der Abiturient:innen werden sich im September bei ihrer Senatorin vielleicht mit keinem Kreuzchen bei der SPD dafür bedanken.

Aber die Schule geht für alle anderen Jahrgänge weiter - und die Probleme reißen nicht ab: Die Teilnahme am Präsenzunterricht ist nun also "freiwillig”. Damit stellt sich für diejenigen Schüler:innen, die sich gegen eine Teilnahme entscheiden - beispielsweise da sie oder ein Familienmitglied besonders erkrankungsgefährdet sind und noch auf ihren Impftermin warten - die Frage: Wie kommen sie nun an das Unterrichtsmaterial und die gestellten Aufgaben? Haben Schüler:innen, die dem Unterricht fern bleiben nun Anspruch auf krankheitsbedingten Nachteilsausgleich, wenn ihnen der Anschluss fehlt? Eine offizielle Ansage der SenBJF gibt es hierzu nicht.

Hätte die Senatorin hier beispielsweise auf einen engeren Austausch mit Eltern und Schüler:innen aus der sog. "Risikogruppe" gesetzt oder Auswertungsgespräche mit Lehrkräften und Schüler:innen geführt, wäre ihr das Problem möglicherweise aufgefallen und hätte vielleicht zum Handeln bewegt. So aber bleibt die Verantwortung für die Folgen der “freiwilligen Entscheidung” bei den Schüler:innen selbst, ihren Eltern und/oder engagierten Lehrkräften, die sich um Ausgleich bemühen, hängen.

Und jetzt? Gute Politiker:innen müssen nicht auf jedes Problem eine passende Lösung parat haben. Zu behaupten, dass das eine einzige Person oder eine Partei könne, wäre überheblich und äußerst unrealistisch.

Was gute Politiker:innen aber können müssen, ist, Prozesse zu gestalten, in denen diejenigen zu Wort kommen, die Probleme am Stärksten betreffen und die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und Expertisen/Fachrichtungen dem Problem nähern können. Dann auswerten, abwägen, eine Entscheidung treffen und dafür Verantwortung übernehmen zu können - das ist, was Wähler:innen erwarten sollten.

Mangelnde Impfbereitschaft unter Pflegekräften?

Eine E-Mailumfrage (!) sorgt für Panik: Nur rund die Hälfte der Pflegekräfte in deutschen Kliniken sei bereit, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Das berichtete die ZEIT. Angehörige der sog. Risikogruppe reagierten besorgt, impfbereite Pfleger*innen schockiert ob der scheinbaren Ignoranz ihrer Kolleg*innen - und Markus Söder brachte sogleich die Impfpflicht wieder ins Spiel.

Wie kam diese merkwürdige Debatte zustande und was hat es mit dem Vorstoß des CSU-Politikers auf sich?

Die Impfpflicht: Ein Etwas-weiter-Zurückblick.

Geimpft wird in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent wurden vergleichbare Praktiken schon bis zu einige Jahrhunderte früher durchgeführt.

Eine Impfpflicht wurde schließlich im Deutschen Kaiserreich 1874 eingeführt, um der Pockenepedemie beizukommen. Die Gegnerschaft der Impfpflicht ist dabei so alt wie diese selbst: Der bekannte Philosoph und Rassist Immanuel Kant etwa, hatte davor gewarnt, dass den Menschen auch die "tierische Brutalität" eingeimpft werde.

Im Nationalsozialismus wurde die Impfpflicht schließlich gelockert; die Pockenschutzimpfungen im Zweiten Weltkrieg gar ausgesetzt. Während man sonst vor keiner Grausamkeit zum Erhalt des "gesunden Volkskörpers" zurückschreckte, galt die Impfung wohl eher als Erfindung der "verjudeten Schulmedizin".

Seither scheint das Verhältnis der deutschen Politik zur Impfung gespalten - zu Zeiten der Mauer auch entlang der innerdeutschen Grenze. Der Westen setzte auf Freiwilligkeit beim Impfen, die DDR führte die Impfpflicht Ende der 50er Jahre wieder ein. Das scheint nachzuwirken: Bis zum Ausbruch des Coronavirus berichteten Medien immer wieder von einer höheren Impfbereitschaft im Osten als im Westen - bei der Grippeschutzimpfung zeitweise bis zu 10% mehr.

Eine Studie der Universität Hamburg konnte kein Ost-West-Gefälle in Bezug auf die Corona-Impfung feststellen - nur ausgerechnet Bayern fiel negativ aus der Reihe. Die Impfbereitschaft der Bevölkerung sei dort allgemein auffällig geringer als im Rest von Deutschland. Es drängt sich regelrecht die Frage auf:

Ist der Vorstoß von Markus Söder ein Ablenkungsmanöver vom Bayrischen Problem auf Kosten des Vertrauensverhältnisses zwischen Pflegenden, Pflegebedürftigen und deren Angehörigen?

Fast Forward: 2021.

Pflegepersonal und Pflegebedürftige - ein nicht immer ganz einfaches Verhältnis

Teile und Herrsche beschreibt das Phänomen, in dem zwei oder mehr Bevölkerungsgruppen und ihre Interessen zugunsten einer dritten, weiter außenstehenden Partei gegeneinander ausgespielt werden. Ziel des Ganzen ist es, sich den angefachten Streit zu nutzen zu machen und davon abzulenken, dass sich eben jene dritte Partei Macht sichert und erhält - auf Kosten der Streitenden. Klassisches Beispiel: Einwanderer würden arbeitslosen Einheimischen Jobs wegnehmen, die diese ohnehin nicht bekommen hätten - und arbeiten währenddessen für Löhne, für die besagte Alteingesessene nie hätten arbeiten wollen. Wer freut sich? Der Arbeitgeber. 

Der Arbeitgeber sind in diesem Fall Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen und diesen übergeordnet der Staat. Der entscheidet sich, zu finanzieren - oder eben nicht.

Je schlechter die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal, desto schwieriger ist die Aufrechterhaltung der Arbeitsqualität und natürlich auch der Arbeitslaune. Pflegebedürftigen bleibt dabei meist nicht viel anderes übrig, als auszuhalten. Wer schon mal länger im Krankenhaus war weiß: Auch wenn viele Angehörige des Krankenhauspersonals versuchen, ihre Überanstrengung zu verbergen, bekommt man das natürlich mit. Patient*innen und Angehörige reagieren wahlweise frustriert und offensiv oder aber mit Rückzug - klingeln beispielsweise seltener trotz Schmerzen oder versuchen den Toilettengang hinauszuzögern, für den sie Unterstützung brauchen. Sie fühlen sich eingeschüchtert und verunsichert. 

Berichte über Missbrauchsskandale in Pflegeheimen verstärken das Misstrauen vieler Pflegebedürftiger. Auch wenn diese Vorfälle wohl kaum in Zusammenhang mit Überforderung durch schlechte Arbeitsbedingungen gebracht werden dürfen - sie offenbaren auch Systemfehler, werfen Fragen über Kontrollen und Management auf. Statt transparente Aufarbeitung zu fördern, wird Personal, das Missstände offenlegt, prompt entlassen. Die Unnachvollziehbarkeit solcher Zustände im 21sten Jahrhundert schürt Ängste. 

(Un)Solidarisches Pflegepersonal, falsch interpretierte Statistik und ein bayrischer Noch-Nicht-Kanzlerkandidat

Was ist nun dran an der angeblich mangelnden Impfbereitschaft von Pflegepersonal in deutschen Krankenhäusern? Die ZEIT berichtete zunächst von einer Statistik nach der etwa die Hälfte "der Pflegekräfte" nicht geimpft werden wolle. 

Im ZEIT-Podcast "Was jetzt?" wiederum wird zurückgerudert: Die Information basiere auf einer keineswegs repräsentativen E-Mailumfrage, an der jede*r hätte teilnehmen können. In einer Befragung des RKI wiederum hätten Pflegekräfte vor allem die ungünstigen Öffnungszeiten der Impfzentren beklagt. 

Sicherlich gibt es Impfverweiger*innen unter medizinischem Personal. Es gibt ja auch Ärzt*innen, die die Gefahr des Coronavirus nach wie vor für überbewertet halten.

Dass sich Politiker*innen, die sich bislang äußerst geduldig und verständnisvoll gegenüber Corona-Leugner*innen gezeigt hatten, jetzt so auf diese Befragung einschießen, wirkt fast so, als hätten sie darauf gewartet.

Aber ganz unabhängig davon, wie viele oder wenige Pflegekräfte sich tatsächlich impfen lassen würde: Der ehemalige Pfleger und jetzt Autor Frédéric Valin kann Verständnis für eventuelles Misstrauen gegenüber vermeintlicher Fürsorge der Politik für das Personal aufbringen. Im neuen deutschland schreibt er:

"Dass auf die Gesundheit von Pflegenden Acht gegeben wird, ist eine ganz neue Entwicklung. Seit Jahren sind die Arbeitsbedingungen so schlecht, dass eine Stelle in der Pflege immer mit herbem Raubbau an Körper und Psyche einhergeht. [...]

Die Impfverweigerungen der Pflegenden taugen aber auch als Indikator dafür, wie schlecht Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen in den Heimen funktionieren. Es hätte eigentlich einen Wissensvorsprung in der Pflege gebraucht. Damit ist nicht gemeint: besser informiert zu sein als der Forschungsstand; sondern besser informiert zu sein als der Durchschnitt der Bevölkerung. Dazu hat allerdings eines gefehlt: aufbereitete Informationen."

Für die #Risikogruppe, der im Übrigen durchaus auch Pflegekräfte angehören, bleibt vor allem zu hoffen, dass sich die besagte Befragung als nicht repräsentativ bewahrheitet.

Darüber hinaus müssen wir an einem solidarischen Ausweg aus der Krise festhalten:

Personal aufstocken, Löhne anheben, Ausrüstung bereitstellen, Fallpauschalen abschaffen, bedarfsgerechte Finanzierung schaffen, Ausbildungen verbessern und Weiterbildungen ermöglichen. Außerdem: Diskriminierung im Gesundheitswesen bekämpfen. Für gute Arbeits-, Genesungs- und Versorgungsbedingungen für alle.

Achso, und wie machen wir das mit der Impfpflicht?

Darüber vermag ich mir derzeit kein abschließendes Urteil zu bilden. Aber sicher ist: Ich lasse mich impfen und hoffe, du tust es auch.

Natürlich sofern du keine guten Gründe dagegen hast. Gute Gründe könnten vielleicht Allergien sein - aber sicher keine antisemitischen, psudo-wissenschaftlichen Thesen.